Text 3

Man kann sicherlich nicht behaupten, im Anredeverhalten spiegeln sich unmittelbar die gesellschaftlichen Verhältnisse wider. Symmetrisch gebrauchte Anredeformen können nämlich große Unterschiede überdecken oder aber gar nicht zum Ausdruck bringen; außerdem stellen die Sprechenden - wie wir bereits gesehen haben - mit der Verwendung entsprechender Ausdrucksmuster eine bestimmte Beziehung untereinander überhaupt erst her, sie bilden diese nicht einfach ab, als seien sie schon vorhanden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die ausgeprägten nominalen und pronominalen Anredeformen in einer Sprache völlig unabhängig von kulturspezifischen Bedingungen sind. Oft wird ein solcher Zusammenhang erst aus Vergleichen mit älteren Sprachstufen oder anderen Sprachen/Kulturen deutlich. [...]

Im aktuellen Sprachgebrauch folgt das Anredeverhalten keineswegs immer so eindeutigen und streng anzuwendenden Regeln [...]. In Zweifelsfällen sollte man erst einmal mit "Sie" beginnen. Es gibt allerdings Kommunikationsbereiche, in denen man mit bestimmten Abweichungen rechnen muss.

Die bisherigen Ausführungen gehen von einer Standardanrede aus, die im Wesentlichen aus dem formellen "Sie" und dem vertrauten "Du" mit den entsprechenden Pluralformen besteht. Dies bedarf noch einer Präzisierung: Das Kriterium des Vertrautheitsgrades ist nicht in allen gesellschaftlichen Gruppen für das Anredeverhalten von Bedeutung. Am deutlichsten wird dies z.B. beim heutigen "du"-Gebrauch unter Studenten.

Bis in die sechziger Jahre herrschte auch im universitären Bereich das Standardschema vor: Studenten siezten sich untereinander. Ein Wandel trat gegen Ende der sechziger Jahre ein, als man zur generellen "Du"-Anrede überging. Der Grund für diese Änderung des Anredeverhaltens lag wohl darin, dass die Studenten sich wünschten, die in der Studentenbewegung erreichte bzw. angestrebte Solidarität solle man auch in der Anredeform zum Ausdruck bringen. Diesem Wechsel schlossen sich auch manche Dozenten an. Mit der Änderung, die in Anlehnung an das solidarische "Du" aus der sozialistischen Bewegung erfolgte, etablierte sich ein neues Anredeschema: Das "Du" signalisierte nicht mehr eine besondere Vertrautheitsstufe, sondern war Zeichen einer gemeinsamen Wertebasis und Ausdruck von Solidarität. Die "Sie"-Anrede bekam demgegenüber einen ausschließenden Charakter und markierte Distanz und Nicht-Zugehörigkeit zur Gruppe.


Ergebnis