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Unterricht als Unterhaltung: Die "Sesamstraße" und die Folgen

Nach der Ausstrahlung der 1. Folge von Sesamstraße im Jahre 1969 schien ausgemacht, dass sie bei Kindern, Eltern und Erziehern begeisterte Aufnahme finden würde. Den Kindern gefiel die Sendung aus Freude an Werbespots. Denn sie wussten, dass Werbespots die am besten gemachte Werbung im Fernsehen ist. Diejenigen, die noch nicht zur Schule gingen und auch die, die gerade in die Schule gekommen waren, fanden es ungeachtet des Einsatzes von Werbespots ganz natürlich, dass es sich um Unterricht handelte. Und dass das Fernsehen zu ihrer Unterhaltung da war, war für sie ohnehin selbstverständlich.
Die Eltern begrüßten Sesamstraße aus mehreren Gründen. Denn die Sendung dämpfte ihre Schuldgefühle, die sie angesichts ihrer Unfähigkeit, den Zugang ihrer Kinder zum Fernsehen zu beschränken, hatten. Sesamstraße schien zu rechtfertigen, dass man Vier- und Fünfjährigen erlaubte, während langer Zeitspannen reglos vor dem Fernseher zu verharren. Die Eltern gaben sich der Hoffnung hin, das Fernsehen werde ihren Kindern trotz der Antwort auf die Frage, welche Cornflakes die knusprigsten sind, noch etwas Sinnvolles beibringen. Gleichzeitig enthob Sesamstraße sie der Verpflichtung, ihren Kindern noch vor dem Schulbeginn das Lesen beizubringen - gewiss keine Kleinigkeit in einer Kultur, in der Kinder häufig als lästig empfunden werden [...]

Sesamstraße erschien als phantasievolle Hilfe bei dem Versuch zur Lösung des großen Problems, den Amerikanern das Lesen beizubringen. Gleichzeitig schien es die Kinder zu ermuntern, die Schule zu lieben. Heute wissen wir, dass Sesamstraße die Kinder nur dann ermuntert die Schule zu lieben, wenn es in der Schule zugeht wie in Sesamstraße. Mit anderen Worten, wir wissen, dass Sesamstraße die herkömmliche Idee des Schulunterrichts untergräbt. Während das Klassenzimmer ein Ort sozialer Interaktionen ist, bleibt der Platz vor dem Bildschirm Privatgelände. Während man in einem Klassenzimmer den Lehrer etwas fragen kann, kann man dem Bildschirm keine Fragen stellen. Während es in der Schule hauptsächlich um die Sprachentwicklung geht, wird mittels Fernsehen Aufmerksamkeit für Bilder verlangt. Während der Schulbesuch vom Gesetz vorgeschrieben ist, ist fernsehen ein freiwilliger Akt. Während man in der Schule mangels Konzentration auf den Lehrer eine Strafe riskiert, wird fehlende Aufmerksamkeit vor dem Bildschirm nicht bestraft. Während man mit dem Verhalten in der Schule zugleich gewisse Regeln des Sozialverhaltens beachtet, braucht man sich beim Fernsehen an solche Regeln nicht zu halten. Das Fernsehen hat keinen Begriff von Sozialverhalten. Während der Spaß im Klassenzimmer immer nur Mittel zum Zweck ist, wird er im Fernsehen zum eigentlichen Zweck. [...]


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